DER KAMPF MIT DEM SCHATTEN
Es war dunkel in Eragons Zelle, als er wie elektrisiert aus dem Schlaf hochschreckte. Der Nebel in seinem Kopf war verflogen! Seit Stunden hatte er die magischen Energien am Rande seines Bewusstseins gespürt, aber immer wenn er versucht hatte, sie zu gebrauchen, war nichts geschehen. Seine Augen glänzten vor Aufregung, als er die Fäuste ballte und sagte: »Nagz reisa!« Die Bettdecke flog in die Luft und ballte sich zu einer faustgroßen Kugel zusammen, die mit dumpfem Knall zu Boden fiel.
Eragon sprang aufgeregt von der Pritsche. Das gewaltsame Fasten hatte ihn geschwächt, aber sein Tatendrang war größer als sein Hunger. Und jetzt kommt der wahre Test. Er tastete mit seinem Geist nach dem Türschloss. Statt es aufzubrechen oder herauszuschneiden, schob er den Schließmechanismus einfach zur Seite. Mit einem leisen Klicken ging die Tür nach innen auf.
Als er in Yazuac zum ersten Mal magische Kräfte eingesetzt hatte, um die Urgals zu töten, hatte es fast seine gesamte Kraft aufgezehrt, aber seitdem war er viel stärker geworden. Was ihn früher völlig erschöpft hätte, machte ihn jetzt nur ein bisschen müde.
Vorsichtig trat er in den Gang hinaus. Ich muss Zar’roc und die Elfe finden. Sie muss in einer der Zellen sein, aber ich habe keine Zeit, um in jeder nachzusehen. Und was Zar’roc betrifft - der Schatten könnte es an sich genommen haben. Er merkte, dass sein Denkvermögen noch nicht völlig frei vom Einfluss der Droge war. Warum stehe ich hier draußen?, fragte er sich. Ich könnte in die Zelle zurückgehen und mit magischen Kräften durchs Fenster fliehen. Aber dann könnte ich die Elfe nicht retten ... Saphira, wo bist du? Ich brauche deine Hilfe. Er schalt sich dafür, sie nicht früher gerufen zu haben. Das hätte er als Allererstes tun müssen, nachdem seine Kräfte zurückgekehrt waren.
Ihre Antwort kam überraschend eilfertig. Eragon! Ich bin über Gil’ead. Bleib ruhig. Murtagh ist schon auf dem Weg.
Was ist ... Schritte unterbrachen ihn. Er wirbelte geduckt herum, als ein Trupp von sechs Soldaten in den breiten Gang einbog. Sie blieben abrupt stehen, während ihre Blicke zwischen Eragon und der offenen Zellentür hin und her wanderten. Das Blut wich aus ihren Gesichtern. Gut, sie wissen, wer ich bin. Vielleicht kann ich ihnen Angst machen und sie verjagen, dann müssen wir nicht kämpfen.
»Auf ihn!«, rief einer der Soldaten und stürmte los. Die übrigen Männer zückten die Schwerter und stapften den Gang hinunter.
Es war Wahnsinn, gegen sechs Männer auf einmal anzutreten, während er unbewaffnet und geschwächt war, doch der Gedanke an die Elfe ließ ihn nicht los. Er brachte es nicht fertig, sie im Stich zu lassen. Unsicher, ob die Anstrengung nicht zu viel für ihn sein würde, konzentrierte er sich und hob die Hand; die Gedwëy Ignasia begann zu glühen. Angst flackerte in den Augen der Soldaten auf, aber es waren hart gesottene Krieger, die trotzdem ungerührt auf ihn zustürmten. Als Eragon den Mund öffnete, um die todbringenden Worte auszusprechen, hörte er ein tiefes Surren, und einer der Männer stürzte mit einem Pfeil im Rücken zu Boden. Zwei weitere Soldaten wurden getroffen, bevor irgendwer begriff, was los war.
Am Ende des Gangs, dort wo die Soldaten um die Ecke gebogen waren, stand ein zerlumpter, bärtiger Mann mit einem Bogen in der Hand. Eine Krücke lag auf dem Boden vor seinen Füßen, doch er schien sie nicht zu brauchen, denn er stand aufrecht und kerzengerade da.
Die drei übrig gebliebenen Soldaten wandten sich zu der neuen Bedrohung um. Eragon nutzte die allgemeine Verwirrung. »Thrysta!«, rief er. Einer der Männer griff sich an die Brust und sackte zusammen. Eragon wankte hin und her, als die Magie ihren Tribut forderte. Ein weiterer Soldat fiel; ein Pfeil hatte sich in seinen Hals gebohrt. »Töte ihn nicht!«, rief Eragon, als sein Retter den letzten Soldaten ins Visier nahm. Der bärtige Mann ließ den Bogen sinken.
Eragon konzentrierte sich auf den vor ihm stehenden Krieger. Der Mann atmete schwer; das Weiße seiner Augen trat hervor. Er schien zu verstehen, dass sein Leben verschont wurde.
»Du hast gesehen, wozu ich imstande bin«, sagte Eragon barsch. »Wenn du meine Fragen nicht beantwortest, wirst du den Rest deines Lebens unter entsetzlichen Schmerzen verbringen. Also, wo ist mein Schwert - Scheide und Klinge sind rot -, und in welcher Zelle ist die Elfe?«
Der Mann presste die Lippen aufeinander.
Eragons Handfläche glühte unheilvoll, als er erneut die magischen Kräfte heraufbeschwor. »Das war die falsche Antwort«, fuhr er ihn an. »Weißt du eigentlich, wie viel Schmerz es verursacht, ein heißes Sandkorn im Bauch zu haben? Besonders dann, wenn es in den nächsten zwanzig Jahren nicht abkühlt und sich langsam durch deinen Leib frisst, bis es deine Füße erreicht! Wenn es schließlich aus dir herauskommt, bist du ein alter Mann.« Er machte eine dramatische Pause. »Wirst du meine Frage jetzt beantworten?«
Die Augen des Soldaten traten hervor, aber er schwieg weiterhin. Eragon schabte einige Dreckkrümel vom Steinfußboden und betrachtete sie teilnahmslos. »Das ist mehr als ein Sandkorn, aber tröste dich: Der Haufen brennt sich schneller durch deinen Körper. Aber er verursacht auch ein größeres Loch.« Auf ein magisches Wort hin begannen die Krümel, rot zu glühen, ohne jedoch seine Hand zu verbrennen.
»Schon gut. Bitte, steck das Zeug nicht in meinen Körper!«, flehte der Soldat. »Die Elfe ist in der letzten Zelle links! Wo dein Schwert ist, weiß ich nicht, aber wahrscheinlich liegt es oben in der Wachstube. Dort werden die Waffen aufbewahrt.«
Eragon nickte und murmelte: »Slytha.« Der Soldat verdrehte die Augen und sackte zusammen.
»Hast du ihn getötet?«
Er sah den Fremden an, der jetzt nur noch wenige Schritte von ihm entfernt stand. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, sich das Gesicht ohne den Bart vorzustellen. »Murtagh! Bist du das?«
»Ja«, sagte der und zog kurz den Bart von seinem rasierten Gesicht. »Ich wollte nicht erkannt werden. Hast du ihn getötet?«
»Nein, er schläft bloß. Wie bist du hier reingekommen?«
»Das erzähle ich dir später. Wir müssen in den ersten Stock hinauf, bevor uns weitere Soldaten entdecken. In ein paar Minuten wird uns jemand zur Flucht verhelfen. Wir dürfen den Zeitpunkt nicht verpassen.«
»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?«, fragte Eragon und deutete auf den schlafenden Soldaten. »Man hält hier eine Elfe gefangen. Ich habe sie gesehen! Wir müssen sie befreien. Ich brauche deine Hilfe.«
»Eine Elfe ...!« Eragon eilte den Gang hinab und Murtagh folgte ihm mit gerunzelter Stirn. »Das ist ein Fehler. Wir sollten fliehen, solange wir noch die Möglichkeit dazu haben.« Vor der Zelle, die der Soldat genannt hatte, blieb Murtagh stehen und zog unter seinem zerschlissenen Umhang einen Schlüsselring hervor. »Den habe ich einer der Wachen abgenommen«, erklärte er.
Eragon deutete auf die Schlüssel und Murtagh gab sie ihm achselzuckend. Er fand den richtigen und stieß die Tür auf. Durch das Fenster fiel ein Streifen silbriges Mondlicht direkt auf das Gesicht der Elfe.
Sie schaute ängstlich auf, in geduckter Haltung, war auf alles gefasst. Sie hielt den Kopf hoch erhoben, anmutig wie eine Königin. Ihre dunkelgrünen, fast schwarzen Katzenaugen trafen Eragons Blick. Ein Schauder durchfuhr ihn.
Sie sahen sich einen Moment lang an, dann zitterte die Elfe und brach lautlos zusammen. Eragon fing sie gerade noch rechtzeitig auf, bevor sie zu Boden sank. Sie war überraschend leicht. Der Duft frischer Tannennadeln umgab sie.
Jetzt trat Murtagh in die Zelle. »Sie ist wunderschön!«
»Aber verletzt.«
»Wir können uns später um sie kümmern. Bist du kräftig genug, um sie zu tragen?« Eragon schüttelte den Kopf. »Dann nehme ich sie«, sagte Murtagh und legte sich die Elfe über die Schulter. »Los, wir müssen nach oben!« Er gab Eragon einen Dolch, dann eilten sie hinaus in den Gang, wo die Leichen der Soldaten lagen.
Mit schweren Schritten führte Murtagh Eragon zu einer Stein-treppe am Ende des Gangs. Während sie hinaufstürmten, fragte Eragon: »Wie kommen wir hier unbemerkt raus?«
»Unbemerkt geht es nicht«, brummte Murtagh.
Das klang nicht gerade beruhigend für Eragon. Er lauschte angestrengt nach Soldaten und fragte sich beklommen, was wohl geschehen würde, wenn plötzlich der Schatten auftauchte. Am oberen Treppenabsatz befand sich ein Speisesaal mit breiten Holztischen. Schilde hingen an den Wänden und die Decke wurde von schrägen Holzbalken getragen. Murtagh legte die Elfe auf einen Tisch und schaute besorgt zur Decke hinauf. »Kannst du kurz mit Saphira reden? «
»Ja.«
»Sag ihr, sie soll noch fünf Minuten warten.«
Draußen waren Rufe zu hören, dann marschierten plötzlich Soldaten am Eingang des Speisesaals vorbei. »Was immer du vorhast, ich glaube nicht, dass uns noch viel Zeit bleibt«, stieß Eragon zwischen den Zähnen hervor.
»Sag es ihr einfach und warte hier auf mich«, gab Murtagh barsch zurück und rannte los.
Als Eragon die Botschaft weitergab, hörte er zu seinem Entsetzen erneut Soldaten vor der Tür. Er verdrängte seinen Hunger und seine Erschöpfung, zog die Elfe vom Tisch und versteckte sie darunter. Mit angehaltenem Atem hockte er sich neben sie, den Dolch fest in der Hand.
Zehn Soldaten stürmten jetzt durch den Saal, sahen unter einigen Tischen nach und verschwanden dann wieder. Eragon lehnte sich seufzend an ein Tischbein. In der plötzlichen Stille wurden ihm sein bohrender Hunger und sein ausgetrockneter Mund bewusst. Auf einem nicht weit entfernten Tisch weckten ein Deckelkrug und ein noch halb gefüllter Teller seine Aufmerksamkeit.
Eragon stürzte aus seinem Versteck heraus, nahm Krug und Teller und eilte zurück unter den Tisch. Im Krug war goldenes Bier, das er mit zwei großen Schlucken hinunterspülte. Erleichterung durchströmte ihn, als die kühle Flüssigkeit seinen Mund durchspülte und seine ausgetrocknete Kehle beruhigte. Er unterdrückte ein Rülpsen, bevor er gierig in einen Brotkanten biss.
Murtagh kehrte mit Zar’roc, einem fremdartigen Bogen und einem eleganten Schwert ohne Scheide zurück. Er drückte Eragon Zar’roc in die Hand. »Das andere Schwert und der Bogen lagen auch in der Wachstube. Solche Waffen habe ich noch nie gesehen, also nahm ich an, dass sie der Elfe gehören.«
»Das finden wir gleich heraus«, sagte Eragon zwischen zwei Brot-bissen. Das Schwert - schlank und leicht, mit einem gebogenen Heft, dessen Enden sich zu scharfen Spitzen verjüngten - passte perfekt in die Scheide am Gürtel der Elfenfrau. Es ließ sich nicht sagen, ob der Bogen ihr gehörte, doch er war so anmutig geformt, dass Eragon fest davon überzeugt war. »Und was jetzt?«, fragte er und stopfte sich noch einen Bissen in den Mund. »Wir können hier nicht ewig bleiben. Früher oder später finden uns die Soldaten.«
»Jetzt warten wir einfach«, sagte Murtagh, zog seinen eigenen Bogen heraus und legte einen Pfeil an die Sehne. »Wie gesagt, unsere Flucht ist vorbereitet.«
»Du verstehst nicht - ein Schatten ist hier! Wenn er uns findet, sind wir am Ende.«
»Ein Schatten!«, rief Murtagh aus. »Dann sag Saphira, sie soll sofort kommen. Wir wollten bis zur nächsten Wachablösung warten, aber das dauert jetzt zu lange.« Eragon gab die Botschaft in knappen Worten weiter, um Saphira nicht mit unnötigem Gerede abzulenken. »Du hast meinen Plan durcheinander gebracht, weil du ja unbedingt selber ausbrechen musstest«, nörgelte Murtagh, den Blick auf den Eingang des Speisesaals geheftet.
Eragon lächelte. »In dem Fall hätte ich wohl lieber warten sollen. Na ja, wenigstens bist du genau im richtigen Moment gekommen. Ich hätte nicht mal mehr kriechen können, wenn ich mit magischen Kräften gegen all die Soldaten hätte kämpfen müssen.«
»Es freut mich, dass ich dir zu Diensten sein konnte«, bemerkte Murtagh. Er erstarrte, als sie in der Nähe Männer vorbeirennen hörten. »Hoffentlich findet uns der Schatten nicht.«
Ein kaltes Lachen schallte durch den Speisesaal. »Ich fürchte, das ist bereits geschehen.«
Die beiden wirbelten herum. Der Schatten stand allein am hinteren Ende des Saales. In seiner Hand lag ein blankes Schwert mit einer langen Schramme auf der Klinge. Er öffnete die Brosche, die seinen Umhang hielt, und ließ den Stoff zu Boden gleiten. Sein Körper erinnerte an den eines Läufers, hager und fast schmächtig wirkend, aber Eragon fiel Broms Warnung ein, dass das Erscheinungsbild eines Schattens täuschte; er war um ein Vielfaches stärker als ein Mensch.
»So, kleiner Reiter, möchtest du dich mit mir messen?«, höhnte der Schatten. »Ich hätte dem Captain nicht vertrauen sollen, als er sagte, du hättest alle Mahlzeiten aufgegessen. Dieser Fehler unter-läuft mir nicht noch einmal.«
»Ich kümmere mich um ihn«, sagte Murtagh leise, legte den Bogen nieder und zückte das Schwert.
»Nein«, murmelte Eragon. »Mich will er lebendig, dich nicht. Ich kann ihn ein paar Minuten ablenken, aber dann hast du hoffentlich einen Fluchtweg für uns gefunden.«
»Gut, dann los«, sagte Murtagh. »Du wirst ihn nicht lange hinhalten müssen.«
Das will ich hoffen, dachte Eragon grimmig. Er zückte sein Schwert und trat langsam vor. Die rote Klinge schimmerte im Schein der Wandfackeln.
Die gelblichen Augen des Schattens leuchteten wie brennender Bernstein. Er lachte leise. »Glaubst du wirklich, du könntest mich besiegen, Du Súndavar Freohr? Was für ein armseliger Name. Ich hätte etwas Feinsinnigeres von dir erwartet, aber dazu bist du offenbar nicht imstande.«
Eragon versuchte, sich nicht provozieren zu lassen. Er starrte auf das Gesicht des Schattens, wartete auf ein Flackern in seinen Augen oder ein Zucken der Mundwinkel, auf irgendetwas, das seinen nächsten Schritt verraten würde. Ich darf keine magischen Kräfte anwenden, sonst könnte er dasselbe tun. Er soll davon ausgehen, dass er mich auch so besiegen wird - was er wahrscheinlich auch kann.
Bevor einer der beiden den ersten Schritt tat, erbebte das Dach über ihren Köpfen. Eine dicke graue Staubwolke senkte sich auf sie herab, während um sie herum Holzteile durch die Luft flogen und lautstark zu Boden krachten. Auf dem Dach hörte man Schreie und das Klirren aufeinander prallenden Metalls. Da er befürchtete, von den herunterfallenden Holztrümmern getroffen zu werden, schaute Eragon kurz zur Decke hinauf. Der Schatten aber nutzte diesen Moment der Ablenkung und griff an.
Eragon konnte Zar’roc gerade noch rechtzeitig hochreißen, um einen Hieb gegen seine Rippen abzuwehren. Ihre Klingen trafen sich mit solcher Wucht, dass seine Zähne aufeinander schlugen und sein Arm einen Moment lang ganz taub war. Großer Gott! Ist der stark! Er packte Zar’roc mit beiden Händen und schwenkte das Schwert mit aller Kraft auf den Kopf seines Gegners zu. Der Schatten fing den Schlag mühelos ab, indem er sein Schwert so schnell hochriss, wie Eragon es noch nie gesehen hatte.
Über ihnen erhob sich jetzt ein grauenvolles Quietschen, als würde man Metall über Fels schleifen. In der Decke brachen drei lange Risse auf, durch die Dachschindeln herabfielen. Eragon beachtete sie nicht, selbst als eine Schindel direkt neben ihm auf den Boden krachte. Obwohl sein Lehrmeister Brom ein Meister gewesen war und sich auch Murtagh als hervorragender Schwertkämpfer erwiesen hatte, war er noch nie dermaßen deklassiert worden. Der Schatten spielte mit ihm.
Eragon wich zu Murtagh zurück. Bei jedem neuerlichen Angriff seines Gegners erzitterten seine Arme. Jeder Hieb schien wuchtiger zu sein als der vorherige. Eragon war nicht mehr stark genug, um seine magischen Kräfte zu nutzen, selbst wenn er es gewollt hätte. Dann, mit einer lockeren Drehung des Handgelenks, schlug ihm der Schatten Zar’roc aus der Hand. Die Wucht des Schlags ließ Eragon keuchend in die Knie gehen. Das Quietschen über ihnen wurde lauter. Was immer da geschah, es kam näher.
Der Schatten starrte verächtlich auf ihn herab. »Du magst ja eine bedeutende Rolle in dieser Komödie spielen, aber ich bin enttäuscht, dass du nichts Besseres zu bieten hast. Wenn die anderen Drachenreiter genauso schwach waren wie du, haben sie Alagaësia nur beherrschen können, weil es so viele von ihnen gab.«
Eragon schaute auf und schüttelte den Kopf. Er hatte Murtaghs Plan begriffen. Saphira, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt. »Nein, du vergisst etwas.«
»Und was soll das sein?«, fragte der Schatten höhnisch.
Ein ohrenbetäubender Lärm brach los, als ein Teil des Dachs weggerissen wurde und darüber der Nachthimmel zum Vorschein kam. »Die Drachen!«, rief Eragon über den Tumult hinweg und wich mit einem schnellen Sprung vor dem Schatten zurück. Der fauchte wütend und ließ mit teuflischer Schnelligkeit sein Schwert durch die Luft sausen. Er verfehlte Eragon und trat einen Schritt weiter nach vorn. Überraschung breitete sich auf seinem Gesicht aus, als plötzlich einer von Murtaghs Pfeilen aus seiner Schulter ragte.
Lachend zerbrach er den Pfeil mit zwei Fingern. »Ihr müsst euch schon etwas Besseres einfallen lassen, wenn ihr mich aufhalten wollt.« Der nächste Pfeil traf ihn zwischen die Augen. Der Schatten stieß ein jämmerliches Heulen aus, krümmte sich und schlug die Hände vors Gesicht. Seine Haut wurde grau. Um ihn herum bildete sich eine Dunstwolke, die seine Gestalt verschleierte. Ein markerschütternder Schrei ertönte, dann löste sich die Wolke auf.
Der Schatten war verschwunden; zurückgeblieben waren nur sein Umhang und ein Kleiderhaufen. »Du hast ihn getötet!«, rief Eragon aus. Ihm waren nur zwei legendäre Helden bekannt, denen es gelungen war, einen Schatten zu besiegen.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Murtagh.
Ein Mann brüllte: »Das reicht. Er hat versagt. Geht rein und schnappt sie euch!« Soldaten mit Fangnetzen und Speeren strömten durch beide Eingänge in den Speisesaal. Eragon und Murtagh wichen bis zur Wand zurück, die Elfe hinter sich herziehend. Die Männer bauten sich im Halbkreis um sie herum auf. Da steckte auf einmal Saphira mit lautem Gebrüll den Kopf durch das Loch in der Decke. Mit ihren mächtigen Klauen packte sie die Kante und riss ein weiteres Stück des Dachs heraus.
Drei Soldaten wirbelten herum und flohen, doch die übrigen Männer hielten die Stellung. Mit ohrenbetäubendem Knacken brach der dickste der Deckenbalken in der Mitte durch und ließ schwere Dachschindeln herabregnen. In heilloser Verwirrung versuchten die Soldaten, den niederprasselnden Trümmern auszuweichen. Eragon und Murtagh pressten sich an die Wand, um nicht getroffen zu werden. Saphira brüllte erneut, worauf auch die restlichen Männer panisch die Flucht ergriffen; einige wurden von den schweren Trümmerstücken erschlagen.
Mit einem letzten gewaltigen Kraftakt riss Saphira den Rest des Dachs heraus, bevor sie sich mit angelegten Flügeln in den Speisesaal herabfallen ließ. Ein Tisch zersplitterte unter ihrem Gewicht. Mit einem erleichterten Aufschrei schlang Eragon die Arme um ihren Hals. Sie summte zufrieden. Ich habe dich vermisst, mein Kleiner.
Ich dich auch. Wir haben noch jemanden bei uns. Kannst du drei Leute tragen?
Natürlich, sagte sie und trat Dachschindeln und Tische aus dem Weg, um sich Platz zum Abheben zu schaffen. Murtagh und Eragon zogen die Elfe hinter sich hervor. Saphira fauchte überrascht, als sie die bewusstlose Gestalt sah. Eine Elfe!
Ja, und sie ist die Frau aus meinen Träumen, sagte Eragon und hob Zar’roc auf. Er half Murtagh, die Elfe in den Sattel zu heben, dann stiegen sie selbst auf. Ich habe Gerangel auf dem Dach gehört. Sind Soldaten da oben?
Jetzt nicht mehr. Seid ihr bereit?
Ja.
Saphira machte einen Satz aus dem Speisesaal auf das halb zerstörte Dach des Gefängnisses, auf dem mehrere Soldatenleichen lagen. »Seht mal, dahinten!«, rief Murtagh und zeigte zur Seite. Bogenschützen stürmten aus einem Turm und bauten sich auf dem intakten Teil des Dachs auf.
»Saphira, du musst sofort losfliegen!«, rief Eragon.
Sie breitete die Flügel aus, rannte auf die Dachkante zu und hob mit einem gewaltigen Satz ihrer kräftigen Beine ab. Die zusätzliche Last auf ihrem Rücken ließ sie gefährlich absinken. Während sie angestrengt versuchte, höher zu steigen, hörte Eragon das melodische Sirren zurückschnellender Bogensehnen.
Pfeile zischten in der Dunkelheit an ihnen vorbei. Saphira schrie schmerzerfüllt auf, als sie getroffen wurde und sich rasch nach links fallen ließ, um dem nächsten Geschosshagel auszuweichen. Weitere Pfeile flogen durch die Nacht, aber die Dunkelheit schützte sie vor neuerlichen Treffern. Beunruhigt beugte Eragon sich über Saphiras Hals. Wo hat es dich erwischt?
Meine Flügel sind durchbohrt ... einer der Pfeile ist stecken geblieben. Ihre Atmung klang schwer und angestrengt.
Wie weit schaffst du es noch?
Weit genug. Eragon hielt die bewusstlose Elfe in den Armen, während sie über Gil’ead hinwegflogen, die Stadt hinter sich ließen, nach Osten abdrehten und hoch in den nächtlichen Himmel stiegen.